Blumen kaufen, obwohl die Welt brennt
Shownotes
«Wenn du echte Sorgen hättest, könntest du dich nicht mehr an kleinen Dingen freuen.» Dieser Gedanke geht mir manchmal durch den Kopf, wenn ich auf dem Nachhauseweg einer Katze begegne, darüber staune, was diese Woche in meiner Gemüsekiste geliefert wird, oder im Secondhand-Buchladen ein spezielles Buch entdecke.
Darf ich mich überhaupt noch freuen, während rundherum die Welt brennt, Menschen in Iran gefoltert werden, in Äthiopien brutal getötet, in der Schweiz wie Ware verkauft und gekauft werden?
Kürzlich las ich das Tagebuch von Etty Hillesum. Sie war eine Jüdin, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Amsterdam lebte. 1943 wurde sie in ein Arbeitslager gebracht und schliesslich nach Auschwitz, wo sie getötet wurde. Bis wenige Wochen vor ihrem Tod schrieb sie Tagebuch. Darin dokumentierte sie sowohl die immer stärkere Diskriminierung, die konkreten Probleme und die Gefühle, die dadurch bei Jüdinnen und Juden entstanden, sie schrieb über Not und Verzweiflung. Aber immer wieder schrieb sie auch über das Positive, und darüber, dass sie das Leben nach wie vor als schön und lebenswert empfand. Über Blumen, die sie kaufte, und Freund:innen, die sie traf. In ihrem Herz sei Platz für viele verschiedene Dinge, schrieb sie.
Dass jemand, die ein solch grausames Schicksal erlitt, so lange an den positiven Dingen und an ihrem Glauben festhalten konnte, gibt mir Mut. Und es zeigt mir, dass ich mir sowohl bewusst sein kann, was auf der Welt schreckliches passiert, als auch mich an kleinen Dingen freuen darf.
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00:00:00: Ich kann mich total gut an kleinen Dingen freuen.
00:00:02: Z. B. am Gemüse-Abo, das immer freitags kommt,
00:00:05: oder wenn ich auf dem Heimweg eine Katze streicheln kann,
00:00:08: oder wenn ich im Secondhand ein spezielles Buch finde.
00:00:11: Manchmal denke ich, dass ich mich daran freuen kann,
00:00:14: zeigt einfach, wie privilegiert ich bin.
00:00:16: Wenn ich echte Sorgen im Leben hätte,
00:00:18: sähe ich diese Dinge gar nicht mehr.
00:00:20: Manchmal habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen:
00:00:22: Es gibt so viele Krisen auf der Welt,
00:00:25: in den Nachrichten habe ich gerade
00:00:27: über den brutalen Krieg in Äthiopien gehört,
00:00:29: und von Menschenhandel in der Schweiz.
00:00:31: Kürzlich habe ich aber jemanden kennen gelernt,
00:00:33: die ein hartes Schicksal hatte
00:00:35: und dennoch ihren Optimismus nicht verlor.
00:00:38: Und zwar las ich die Tagebücher von Etty Hillesum.
00:00:41: Etty war eine Jüdin und lebte in Amsterdam
00:00:44: zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
00:00:46: Sie beobachtete und schrieb auf,
00:00:48: was in jener Zeit alles passierte.
00:00:49: 1943 kam sie in ein Arbeitslager,
00:00:53: auch dort schrieb sie Tagebuch.
00:00:55: Ein paar Monate später brachte man sie ins Konzentrationslager Auschwitz,
00:01:00: zusammen mit Hunderten und Tausenden anderen,
00:01:02: und dort wurde sie umgebracht.
00:01:04: Etty wusste genau, welches Schicksal auf sie wartete.
00:01:08: Bei all dem Schweren verlor sie aber nie die Freude an kleinen Dingen.
00:01:12: Sie las Gedichte von Rilke,
00:01:14: sie traf Freund*innen
00:01:16: und ging Blumen kaufen – für die Blumen
00:01:18: nahm sie sogar einen Umweg in Kauf,
00:01:20: obwohl sie Blasen an den Füssen hatte,
00:01:23: weil sie als Jüdin Tram und Fahrrad nicht mehr nutzen durfte.
00:01:26: In einer Zeit, in der sie all das Schwere, die Not und Hoffnungslosigkeit wahrnahm
00:01:31: und auch selbst spürte,
00:01:33: kaufte sie Blumen, weil sie wusste,
00:01:35: dass sie ihr auf ihrem Schreibtisch Freude bereiten würden.
00:01:38: In ihrem Herzen habe es Platz für viele verschiedene Dinge,
00:01:42: schrieb sie in ihr Tagebuch.
00:01:44: Ich weiss nicht, was mir in meinem Leben noch passieren wird.
00:01:46: Aber es macht mir irgendwie Mut,
00:01:47: wenn ich lese, dass jemand wie Etty Hillesum
00:01:50: sich bis am Schluss an kleinen Dingen freuen konnte.
00:01:53: Sie fand auch Kraft in ihrem Glauben an Gott.
00:01:56: Sie verglich den Glauben mit einem erfrischenden Brunnen,
00:02:00: zu dem sie beim Beten innerlich gehen konnte,
00:02:01: einen Brunnen, den alle in sich tragen,
00:02:04: der aber bei manchen verschüttet ist.
00:02:06: Bis zum Schluss blieb Etty menschlich
00:02:08: und kümmerte sich um andere Menschen.
00:02:10: Was Etty Hillesum schrieb, zeigt mir,
00:02:12: dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss,
00:02:14: wenn ich mich an kleinen Dingen freue
00:02:16: und gleichzeitig die Nachrichten höre.
00:02:17: Ich muss weder das eine noch das andere ausblenden.
00:02:20: Es ist gut, zu wissen, was gerade passiert
00:02:23: und wenn mich das nicht kalt lässt,
00:02:24: was anderen Menschen auf der Welt zustösst.
00:02:26: Aber das heisst nicht, dass ich mich nicht mehr freuen darf.
00:02:29: In meinem Herzen hat es Platz für verschiedene Dinge.
00:02:33: Es interessiert mich, wie es dir geht
00:02:35: mit den Nachrichten, und was du tust,
00:02:38: um dich weniger hilflos und verzweifelt zu fühlen.
00:02:41: Schreib mir gerne einen Kommentar!
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